„Wir wollen keine Rosinenpickerei“
Bundesaußenminister Joschka Fischer im Zeitungsinterview
Zwischen innenpolitischem Wahlkampf und internationalen Krisenszenarien: Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) versucht derzeit, beides unter einen Hut zu bringen. Gestern stellte er sich in unserem Pressehaus den Fragen unserer Redaktionsmitglieder Jörg Jung, Albert Malachewitz und Christoph Willenbrink.

Frage: Wie ernst ist es der US-Regierung mit einem Angriff auf den Irak?
Fischer: Die Debatte in Washington ist ernst zu nehmen, ohne Zweifel, aber um so wichtiger ist es, dass wir eine gemeinsame europäische Position finden. Durch die öffentlichen Anhörungen in Washington, verschiedene Indiskretionen sowie Äußerungen des US-Präsidenten und anderer Vertreter der US-Regierung gewinnt diese Debatte jetzt erheblich an Fahrt. Insofern werden wir uns da nicht raushalten können. Ich sehe das allerdings mit sehr großer Sorge. Wir sind direkte regionale Nachbarn und meine Hauptsorge ist, ob sich die USA wirklich darüber im Klaren sind, was die Konsequenzen einer Militärintervention sind, die auf den Regierungswechsel in Bagdad zielt. Die Fragen, die damals am Ende des Golfkrieges auf dem Tisch lagen, als der Vater von Präsident George W. Bush Präsident war und die ihn davon abhielten, nach Bagdad zu gehen, diese Fragen sind heute noch relevant. Ich rate deshalb zu einer sachbezogenen Debatte, wo wir sehr klar die Risiken analysieren müssen.

Frage: Welche Konsequenzen hat das für Sie?
Fischer: Wenn sich die USA in diesem Engagement vertun, wenn sie die langfristige Herausforderung unterschätzen, dann würden wir als Europäer als direkte regionale Nachbarn das zu spüren bekommen. Für mich ist die Prioritätensetzung klar: An erster Stelle steht der Kampf gegen den internationalen Terrorismus - das ist nicht Saddam. Niemand kann sagen, dass die Gefahr, die von El Kaida ausgeht, gebannt ist. An zweiter Stelle stehen für mich die regionalen Konflikte - ob das Kaschmir ist und vor allem als drängendster der in Nahost. Ob hier wirklich die Risiken bedacht sind, in eine solche Situation hinein einen militärischen Konflikt in einer extrem schwierigen Region zu beginnen, da habe ich mehr als nur Fragezeichen zu setzen.

Frage: Sehen Sie eine Chance, dass sich Deutschland aus einer militärischen Intervention heraushalten kann, ohne die Beziehungen zu den USA extrem zu belasten?
Fischer: Für uns war es völlig klar, dass wir uns nach dem 11. September solidarisch mit den USA zeigen. Zum ersten Mal sind wir in der Mission "Enduring Freedom" mit Militäreinheiten weit jenseits von Europa im Einsatz. Es darf deshalb aber auch keinen Automatismus geben, schon gar nicht, wenn es solch gravierende Fragezeichen gibt. Wir befinden uns nicht in einem Verhältnis, wo man immer gleich Ja und Amen sagt. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass es auch inneramerikanisch noch erhebliche Diskussionen gibt.

Frage: Glauben Sie, dass die Irak-Frage noch zu einer entscheidenden Frage im Wahlkampf wird?
Fischer: Das ist weniger eine Frage des Wahlkampfs. Die Debatte wird international geführt. Und sie läuft auch massiv in den USA unter dem Gesichtspunkt "Es ist die riskanteste Entscheidung seit Vietnam". Und dann kommt Wolfgang Schäuble als Stoibers Mann für die Außenpolitik und sagt: Egal wie sie kommt, wir sind dabei. Das darf doch nicht wahr sein. Ich sage Ihnen das als jemand, der nun wirklich zwei Mal nicht nur die eigene politische Existenz, sondern auch die seiner Partei in die Waagschale geworfen hat, als es im Kosovo und beim Mazedonien-Einsatz um sehr schwierige militärische Entscheidungen ging. Weder Schröder noch ich müssen uns da noch rechtfertigen, dass wir Anti-Amerikaner oder sonst was wären. Wenn ich der Überzeugung wäre, der Einsatz im Irak müsste jetzt sein, dann würde ich dafür stehen. Das weiß auch meine Partei. Aber genauso sage ich es, wenn ich damit echte Probleme habe - und ich habe damit echte Probleme. Große Sorgen.

Frage: Wie lässt sich Ihr Engagement im Wahlkampf mit Ihrem Amt in Einklang bringen?
Fischer: Ich bin ja nicht der erste Außenminister, der Wahlkampf macht. Das geht sehr gut, jetzt bin ich Innenpolitiker, werbe für meine Partei, werbe für mich und die Erneuerung meines Mandats als Außenminister einer rot-grünen Regierung. Ich präsentiere unsere und damit auch meine Leistungsbilanz als Außenminister. Gleichwohl müssen die Geschäfte weiter gehen. Unser Wahlkampfbus ist gleichzeitig auch Büro.
Frage: Drohen den Grünen durch die Zuspitzung auf das Duell Schröder–Stoiber, auch mit den TV-Duellen, Stimmenverluste, droht gar ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde?
Fischer: Das sehe ich überhaupt nicht. Wir werden kämpfen und am Ende zulegen.
Frage: Mehr Prozente als bei der letzten Bundestagswahl?
Fischer: Ja. Wir wollen 8 plus X erreichen. Das halte ich für realistisch. Nun haben wir ja bereits ein Zeitungsduell der beiden erlebt - und das war nun wirklich prickelnd, oder? Schauen wir uns mal das erste TV-Duell an. Ich könnte mir vorstellen, dass sich großkoalitionäre Ödnis auf dem Bildschirm breit macht.

Frage: 8 plus X ist nicht gerade ein bescheidenes Wahlziel. Warum sollte jemand denn überhaupt die Grünen wählen?
Fischer: Wir sind der entscheidende Reformmotor gewesen. Diese Regierung hat bis zum Einbruch der Weltwirtschaft große innenpolitische Reformen vorangebracht: Steuerreform, Rentenreform, wir haben das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert, die Energiepolitik mit dem Atomausstieg und dem Einstieg in die erneuerbaren Energieformen konzipiert. Was wurden wir zuvor ausgelacht, heute ist der Sektor erneuerbare Energien der Arbeitsplatzsektor Nummer eins in einem ansonsten sehr schwierigen wirtschaftlichen Umfeld. Hier sind wir weltweit führend. Was wir weiter anpacken müssen, sind die notwendigen Reformen am Arbeitsmarkt. Und da wird der Bericht der Hartz-Kommission von entscheidender Bedeutung sein.

Frage: Die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt und im Gesundheitssystem waren ja auch schon vor vier Jahren bekannt. Warum ist die Bundesregierung nicht etwas härter und zügiger rangegangen?
Fischer: Erstens, Sie können nicht alles gleichzeitig machen. Zweitens hat sich die Lage am Arbeitsmarkt zunächst positiv entwickelt auf Grund unserer Politik. Die Krise der Bundesanstalt für Arbeit können Sie nicht bei uns abladen, das sind die Strukturen, die wir von der Vorgängerregierung geerbt haben. Wir haben die Dinge angepackt, die aus damaliger Sicht unmittelbar notwendig waren. Jetzt hat die Krise der Bundesanstalt für Arbeit es notwendig gemacht und auch die Möglichkeit erbracht, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite bereit waren, in der Hartz-Kommission mitzuarbeiten, was sie in dem Maße etwa im Bündnis für Arbeit nicht gewesen sind. Wir wollen, dass das Hartz-Paket als Ganzes umgesetzt wird, also keine Rosinenpickerei. Bei der Gesundheitspolitik war es sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss, die Kostendämpfungspolitik meiner Parteikollegin Andrea Fischer als Gesundheitsministerin aufzugeben. Nur, dass Herr Seehofer, der eine Gesundheitsreform bereits vor die Wand gefahren hat, hier irgend etwas besser machen wird, das halte ich für ein Gerücht. Wie ich das insgesamt für das ganze Stoiber-Team sehe. Das atmet den schweren Atem, die alte Luft der Ära Kohl.

Frage: Vor vier Jahren haben Sie beim Thema Massenarbeitslosigkeit von der "Schlafwagenabteilung in Bonn" gesprochen und Helmut Kohl vorgeworfen, nach 16 Jahren Regierungszeit kurz vor der Wahl ein 100-Tage-Programm gegen die Arbeitslosigkeit vorzulegen. Das war aus ihrer Sicht, Zitat - "so unverschämt, so breit kann man gar nicht grinsen". Wer grinst bei Hartz denn jetzt?
Fischer: Das ist ein ganz erheblicher Unterschied, ob die Kohl-Regierung damals 600000 ABM-Plätze in Ostdeutschland nur für die Dauer eines halben Jahres als kosmetische Korrektur der Statistik und nur aus Gründen des erhofften Machterhalts geschaffen hat, auch in dem Wissen, was wirklich notwendig ist, oder ob Sie eine konsequente Reform planen. Während der 8 Jahre Kohl nach der deutschen Einheit gab es einen künstlich finanzierten Boom in der Bauindustrie im Osten. Wir haben in den ganzen vier Jahren eine Rezession in der Bauwirtschaft gehabt. Warum? Weil die Abschreibungsblase, die Finanzminister Theo Waigel damals produziert hat, heute zu enormen Leerständen, zu Pleiten und zur Rezession am Bau geführt hat. Wir haben damit einen Wachstumsverlust über die ganzen vier Jahre von jeweils einem halben Prozentpunkt zu verzeichnen.

Frage: Bei den Vorwürfen, "Hartz, das ist ja alles nur Wahlkampf" müsste Ihnen das Messer in der Tasche aufgehen, schließlich haben die Grünen bereits vor einem Jahr genau diese Reformvorschläge auf den Tisch gelegt, in der Koalition aber nicht durchgesetzt.
Fischer: Das zeigt die Bedeutung der Grünen als Reformmotor in der Koalition. Wer meint, in einem von Guido Westerwelle schon seit langem gepredigten Neoliberalismus, der gegenwärtig in Amerika zu Staub zerfällt, das Programm für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sehen, der steht völlig daneben.

Frage: Sie haben als Außenminister die besten Umfragewerte aller Bundespolitiker. Die Außenpolitik ist ja eigentlich kein ursprüngliches Feld der Bündnisgrünen. Glauben Sie, dass Sie als Außenminister für die Grünen wirklich punkten können?
Fischer: Ja sicher, ohne jeden Zweifel. Die Koalition gäbe es nicht mehr, wenn nicht ein Grüner im Auswärtigen Amt gesessen hätte. Es ist wohl das Problem von Leuten wie Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine, dass wir uns nicht in Wunschwelten bewegen. Wir waren als Koalition noch nicht richtig gebildet, da war bereits der Kosovo-Krieg im Anzug. Meine Parteikollegin Marieluise Beck war eine der wenigen, die bereits am Anfang der Balkan-Krise die richtige Position hatten, dass nämlich dem blutigen Nationalismus, wenn nötig auch mit Waffen entgegengetreten werden muss. Ich hatte am Anfang eine andere, es hat sich gezeigt, eine falsche Position. Das hat sich auch meine Partei unter heftigsten Auseinandersetzungen erstritten. Das war sehr schwer und letztlich nur mit einem grünen Außenminister durchsetzbar.

Frage: Halten Sie es für realistisch, dass die Wähler die jetzige Koalition bestätigen?
Fischer: Das Rennen ist mitnichten gelaufen, das lässt sich noch umdrehen.

Frage: Halten Sie eine andere Koalition unter Einfluss der Bündnisgrünen für möglich?
Fischer: Wir kämpfen für Rot-Grün.

Frage: Rot-Grün-Dunkelrot kommt nicht in Frage?
Fischer: Das können Sie vergessen. Die PDS vertritt in der Außen- und Sicherheitspolitik Positionen, da müsste ich politischen Selbstmord begehen. Als Partei kann die PDS diese Positionen vertreten, als Teil einer Bundesregierung absolut nicht. Als Partei kann man ja auch erklären, der Mond ist eckig. Unser Land wird international sehr ernst genommen. Und dafür sind Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit nötig. Da können Sie nicht solche Dinge wie die PDS machen. Das gilt auch für die Möllemann-FDP, die mit ihrer Antisemitismusdebatte versucht, den rechten Rand zu beerben.

Frage: Sie wollen doch nicht sagen, dass nicht auch über andere Koalitionsformen nachgedacht wird?
Fischer: Sonst würden Sie mich ja nicht danach fragen, offenbar grübeln Sie da schwer drüber. Trotzdem: Wir kämpfen für Rot-Grün.

Frage: Die Bonusmeilen-Affäre hat Ihrer Partei reichlich negative Schlagzeilen gebracht. Wie schätzen Sie den Effekt auf die eigene Klientel ein?
Fischer: Alle, die daran beteiligt sind, wissen, dass sie Fehler gemacht haben. Rezzo Schlauch weiß auch, dass er mit diesem Fehler wird leben müssen. Gleichwohl muss man unterscheiden zwischen echtem Skandal und Skandälchen.
Frage: Die klassische Bindung zu den Parteien hat nachgelassen. Haben Sie nicht Angst, dass selbst Skandälchen die Wahlentscheidung kurzfristig kippen können?
Fischer: Nein, das sehe ich nicht. Dass hier gegen uns eine Kampagne gefahren wird, ist offensichtlich. Nehmen Sie Jürgen Trittin. Er konnte jeden Vorwurf entkräften. Nehmen Sie CDU-Chefin Angela Merkel, die fliegt, so entnehme ich das diesem Boulevard-Blatt, mit ihrem Lebensgefährten nach Rom und benutzt dafür Meilen, die sie als Parteivorsitzende der CDU erflogen hat. Keinerlei Aufregung. Und das wäre auch der Erwähnung nicht wert, wenn bei Jürgen Trittin der gleiche Maßstab angelegt würde. Warum wird Jürgen Trittin anders behandelt als Angela Merkel? Es gibt nur eine Antwort: Man hat da eine politische Absicht. Das ist im Rahmen der Pressefreiheit völlig gedeckt. Man will im Hause Springer diese Regierung weg haben, das ist völlig legitim, aber dann soll man es offen sagen und nicht durch die kalte Küche kommen. Das ist es, was ich verlange.


Kreiszeitung Wesermarsch, 08. August 2002
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